Um den 9. November herum muss der Mauerfall regelmässig als Metapher für alles mögliche herhalten. Der wohl deplazierteste Versuch, die Mauer-Analogie für ideologische Zwecke einzuspannen, kommt dieses Jahr allerdings von einem Mann, der eigentlich sehr genau weiss, wovon er spricht. Michail Gorbatschow schrieb dieses Jahr am 9. November einen Gastbeitrag mit dem Titel „Tear down this wall! And save the planet“ für die Times. Der letzte Regierungschef der untergegangenen Sowjetunion bemüht sich dabei verzweifelt, eine Parallele herzustellen zwischen dem Fall der Berliner Mauer und der „Notwendigkeit“, der kommenden „Klimakatastrophe“ entschieden entgegenzutreten:

„Die Klimakrise ist die neue Mauer, die uns von unserer Zukunft trennt, und die heutigen Staats- und Regierungschefs unterschätzen bei weitem die Dringlichkeit des Handelns und das möglicherweise katastrophale Ausmaß dieses Notfalls. […] Wie vor 20 Jahren stehen wir vor einer Bedrohung für die globale Sicherheit und unsere zukünftige Existenz, die keine Nation alleine bewältigen kann. Und wieder ist es das Volk, das Veränderungen fordert. So, wie das deutsche Volk damals seinen Willen zur Einheit erklärte, fordern die Weltbürger heute, dass Maßnahmen ergriffen werden, um den Klimawandel zu bekämpfen.“

Nur forderten die ostdeutschen Bürger, die die Mauer zu Fall brachten, ihre Regierung gerade nicht dazu auf, „Maßnahmen zu ergreifen“. Sie brachten ihre Regierung vielmehr dazu, vom permanenten „Maßnahmen ergreifen“ ausnahmsweise einmal abzusehen, und ihre Bürger zur Abwechslung einfach mal in Ruhe zu lassen.

Ignorieren wir die missglückte Mauer-Analogie, so sagt Gorbatschow im Grunde folgendes: Vor 20 Jahren scheiterten die von technokratischen Eliten zentral gelenkten Volkswirtschaften. Die Lehre, die wir daraus ziehen sollten, ist, dass wir heute technokratische Eliten brauchen, die unsere Wirtschaftsweise, unsere Konsumgewohnheiten und unsere Lebensstile zentral lenken.

Schade. Parallelen zwischen der heute herrschenden Ökohysterie und den untergegangen Sowjetdiktaturen ließen sich durchaus finden. Damals wurden Kritiker des Marxismus-Leninismus als von den Imperialisten bezahlte Feinde des Volkes diffamiert. Heute gilt ein Kritiker des Klimaalarmismus automatisch als Auftragsschreiber der Ölkonzerne. Damals hatten diejenigen, die sich für westliche Konsumgüter begeisterten, in der Regel nicht die Absicht, den Sozialismus an sich anzugreifen. Sie wollten sich dem verordneten Lebensstil lediglich ein Stück weit entziehen. Heute wollen diejenigen, die gerne im Wohlstand leben, niemanden, der Massenkonsum und Technik für moralisch verwerflich hält, an freiwilliger Askese hindern. Der Wunsch nach Zwang ging damals wie heute nur von einer Seite aus. Damals übernahmen sich die Planer heillos, weil sie die Komplexität einer Volkswirtschaft unter- und die eigenen Fähigkeiten überschätzt hatten. Heute halten sich die Klimaplaner für befähigt, das Klima des Jahres 2050 im Voraus zu planen, und dafür milliardenschwere Maßnahmen zu empfehlen.

Die Planwirtschaft sowjetischer Machart ist aus gutem Grund gescheitert: Sie hinderte die Menschen daran, auf der Basis ihres individuellen, ortsspezifischen Wissens zu handeln, dieses über den Preismechanismus an andere weiterzugeben, und durch Versuch und Irrtum zu lernen, wie sich aus knappen Ressourcen das Beste herausholen lässt. Genau diese Fähigkeiten sind auch dann gefragt, wenn es darum geht, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen. Den Wirtschaftsplanern ist es damals nicht gelungen, den Wissensgenerator namens „Markt“ zu ersetzen. Warum sollte es den Klimaplanern anders ergehen?

Kristian Niemietz